Tonalität in der Krise

Tonalität in der Krise
Tonalität in der Krise
 
Tonalität ist die Ordnung der Beziehungen aller Töne eines Musikstücks zu einem zentralen Ton, dem Grundton. In der europäischen Musik seit der Barockzeit realisiert sich diese Ordnung in einem »funktionalen« Akkordsystem, in welchem die Beziehung zwischen der »Tonika«, dem Dreiklang der ersten Stufe (in C-Dur: c-e-g), und der »Dominante«, dem Dreiklang der fünften Stufe (in C-Dur: g-h-d), der den wichtigen »auflösungsbedürftigen« Leitton (h) enthält, vorrangige Bedeutung zukommt. Dieses dominantische Spannungsverhältnis bildet vor allem in der Musik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die treibende Kraft der Akkordbeziehungen und damit die Grundlage der funktionalen Harmonik aller Kompositionen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts werden die harmonischen Verhältnisse mit der Suche nach neuen, farbigeren, überraschenden Klängen immer reichhaltiger, immer komplizierter, und das funktionale Akkordsystem verliert mit dieser fortschreitenden Mannigfaltigkeit zugleich an Eindeutigkeit und Stringenz. Das lässt sich im Wesentlichen an fünf Aspekten der harmonischen Entwicklung deutlich machen, die miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig ergänzen.
 
Zum einen nimmt die Zahl der Töne zu, die einen Akkord bilden können. Zum Beispiel werden die ursprünglich vorherrschenden Dreiklänge (g-h-d) häufig zu Vier-, Fünf- oder Sechsklängen erweitert (g-h-d-f, g-h-d-f-a und so weiter). Das bewirkt eine Intensivierung der Klangwirkung und zugleich eine Abschwächung der tonalen Bindung an denjenigen Ton, der innerhalb des Akkordes als Grundton wirkt.
 
Zum anderen können ein oder mehrere Akkordtöne alteriert werden, das heißt, sie verändern sich um einen Halbton nach oben oder unten. So kann man einen konsonanten Dreiklang (g-h-d) durch die Erhöhung eines Tones (g-h-dis) zu einer Strebedissonanz verschärfen, da der alterierte Ton (hier das dis) eine Leittonspannung (zum e) bewirkt. Die Strebewirkung verstärkt sich, wenn in Vier- und Fünfklängen ein oder gar mehrere Töne alteriert werden. Durch unterschiedliche Spannungsrichtungen der alterierten Töne kann sich dabei allerdings die Strebung des ganzen Akkords verunklaren, sodass eine tonale Zuordnung nicht mehr so eindeutig ist.
 
Unmittelbar damit zusammen hängt drittens die Tendenz zu einer immer stärker werdenden chromatischen Führung der Stimmen und Melodielinien. Chromatik bedeutet melodische Fortschreitung in Halbtönen. Während Skalen zum Beispiel der Dur-Tonleiter ihre Struktur gerade durch den Wechsel von Ganz- und Halbtönen erhalten und den Bezug zu einem Grundton erkennen lassen, besitzt die chromatische Skala, die nur aus Halbtönen besteht, keine solche Struktur und tendiert dazu, die Grundtönigkeit der Harmonik zu verschleiern oder aufzulösen.
 
Viertens nimmt die Freiheit, Akkorde aneinander zu reihen, immer mehr zu, sodass kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ein kompositionsgeschichtlicher Stand erreicht ist, der es möglich macht, jeden Akkord mit jedem zu verbinden. Die Mehrdeutigkeit der vieltönigen und alterierten Akkorde und die Chromatisierung von Linien tragen hierzu ebenso bei wie die bereits bei Franz Schubert häufiger zu beobachtende Rückung zwischen zwei entlegeneren Akkorden (zum Beispiel von C-Dur nach As-Dur), die das ursprünglich auf Akkordverwandtschaften basierende System erweitern und destabilisieren.
 
Und fünftens führt der Auflösungsprozess des funktionalen harmonischen Systems schließlich dazu, dass die Tonika als das tonale Zentrum, dem ursprünglich alle Akkorde zugeordnet werden konnten, nach und nach außer Kraft gesetzt wird. Daher kann man in der Musik des späten 19. Jahrhunderts oftmals über längere Passagen hinweg keine bestimmende Tonart mehr erkennen, auch wenn sie an gliedernden Zäsuren oder gar am Schluss einer Komposition regelmäßig wieder erreicht wird und damit, trotz der stärker werdenden harmonischen Freiheit im Einzelnen, den tonalen Zusammenhalt eines ganzen Werkes immer noch gewährleistet.
 
Obwohl prinzipiell alle Kompositionen des 19. Jahrhunderts in die Entwicklung zu einer komplexer werdenden Harmonik eingebunden sind, gibt es doch einige markante Werke, die sich in besonders auffälliger Weise von eindeutigen funktionalen Bezügen lösen und zu herausragenden Beispielen einer Krise der Tonalität geworden sind. Am bekanntesen in dieser Hinsicht ist die 1859 entstandene und 1865 uraufgeführte Oper »Tristan und Isolde« von Richard Wagner. Angeregt durch das inhaltliche Moment einer ewigen, unstillbaren Liebessehnsucht hat Wagner in diesem Werk die chromatisch intensivierte, mehrdeutige Alterationsharmonik auf ein bis dahin nicht vorstellbares Spannungsniveau gehoben. Symptomatisch hierfür ist sogleich der Beginn des Vorspiels mit dem berühmten »Tristan-Akkord« (f-h-dis'-gis'), der eine kaum übersehbare Variabilität der Auflösungen zulässt. Bezeichnend ist die tonale Entwicklung des ganzen 15-minütigen Vorspiels, das im Wesentlichen um die Tonart a-Moll kreist, diese ihre - im Sinne des dramatischen Gehalts quasi »ersehnte« - Mitte aber nirgends erreicht, sondern sie in stets neuen Ausweichungen und Trugschlüssen umgeht.
 
Ebenso markant und noch radikaler ist der Anfang der bereits 1854 entstandenen »Faust-Sinfonie« von Franz Liszt. Wiederum durch den Inhalt motiviert, charakterisiert Liszt hier den Bruch Fausts mit der philosophischen und wissenschaftlichen Tradition durch ein für diese frühe Zeit absolut singuläres zwölftöniges Motiv, das zwar nichts mit der späteren Zwölftontechnik zu tun hat, das aber durch seine Struktur - es besteht aus vier halbtönig absteigenden übermäßigen Dreiklängen - jedem Ton der zwölfstufigen chromatischen Skala die gleiche Wertigkeit einräumt und damit eine Bindung des Motivs an eine Tonart nicht mehr ermöglicht.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 

Universal-Lexikon. 2012.

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